Bis in die 1990er-Jahre war eine Berufung als Verwaltungsrat[1] häufig der Zenit einer Laufbahn und eine Anerkennung für ein erfolgreiches Berufsleben. Ein solches Mandat stand nicht immer direkt in Zusammenhang mit der Erfahrung oder Funktion einer Person. Oft war es eine Gegenleistung anderer VR-Mitglieder: Die gesamte Führungselite der Schweiz sass in wechselnden Formationen in diesen Gremien. Zum Team gehörten immer auch Anwälte (auch hier die männliche Form, siehe Fussnote), da der juristische Blickwinkel schon damals stets relevant war.
Etwa zwischen 1995 und 2000 schlug das Pendel zurück: Zu viel Verfilzung (wie schärfere Kritiker*innen es nannten) und zu wenig Professionalität (wie die mildere Form von Kritik lautete) führten dazu, dass die VR-Posten professionalisiert wurden. Seither widmen sich viele VR-Mitglieder ausschliesslich diesem Beruf. Sie verfügen über spezifische anwendbare Kompetenzen, bereichern die Gremien durch ihre Erfahrungen aus anderen Verwaltungsräten und haben ein wesentlich geringeres Risiko für Interessenkonflikte. Ebenfalls professionalisiert wurde die Identifizierung, Suche und Ansprache potenzieller Kandidat*innen: einige Executive-Search-Firmen haben sich auf diesen Bereich spezialisiert oder sind inzwischen sogar ausschliesslich darin tätig.
Seit einigen Jahren erleben wir die dritte Umwälzung in Form einer Verjüngung und Feminisierung (was oft Hand in Hand geht). Diese Neuausrichtung wird in grossen börsenkotierten Unternehmen und staatlichen Organisationen in der Regel begrüsst und als selbstverständlich empfunden.
Aktuell beobachten wir ein weiteres Phänomen, vielleicht eine vierte Welle: Viele Kandidat*innen bringen sich selber als VR-Mitglied ins Spiel! Ob der Grund dafür im tieferen Durchschnittsalter der heutigen Verwaltungsrät*innen liegt, das eine Identifikation naheliegender macht? Oder ist es Ausdruck von mehr Selbstvertrauen und einer positiveren, wertschätzenderen Interpretation der eigenen Erfahrung und Kompetenzen, dass sich 30-Jährige um VR-Mandate bewerben?
Wir sehen einen Trend dazu, dass qualifizierte Berufsleute, die noch lange nicht am Ende ihrer Karriere stehen, den Fuss vom Gaspedal nehmen (Stichwort Work-Life-Balance) und dann einen Teil ihrer frei gewordenen Zeit in ein VR-Mandat investieren. Manche dieser Personen haben sicher die Erfahrung und Fähigkeiten, einer solchen Verantwortung gerecht zu werden. Meistens sehen wir jedoch eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen für einen VR-Sitz und dem, was die Bewerber*innen an Erfahrung, Spezialisierung und Mehrwert zu bieten haben. Denn ein VR-Mitglied braucht herausragende Fähigkeiten in einer bestimmten Funktion oder Berufssparte, die für das Gremium einen Mehrwert darstellt, sowie jahrelange Erfahrung im Tätigkeitsbereich des Unternehmens, ein umfangreiches Adressbuch – im Idealfall aber alles gleichzeitig! Mitglied in einem Verwaltungsrat zu werden, ist ein intensiver Job mit viel Verantwortung, der enorm hohe Anforderungen stellt. Ein solches Amt eignet sich daher kaum als gelegentliche Freizeitbeschäftigung.
[1] Wir verwenden hier absichtlich die männliche Form, da die Verwaltungsratsmandate abgesehen von wenigen Familienunternehmen ausschliesslich von Männern besetzt waren.