Drehen Sie den Spiess um!

Wer sich mit dem Thema Bewerbungsgespräche befasst, kommt bald zum Schluss, dass die Persönlichkeitsmerkmale, die sich die Kandidat*innen selber zuschreiben, im besten Fall ein Gesprächseinstieg und im schlechtesten eine Unwahrheit sind (auch wenn dies ohne böse Absicht geschieht). Denn von uns selbst haben wir ein unvollständiges oder falsches Bild (vor allem Personen mit wenig Erfahrung). Ausserdem möchten Bewerber*innen einen guten Eindruck machen und Charakterzüge, die sie an sich selber nicht mögen, nicht durchscheinen lassen. Schliesslich versuchen sie auch, dem gesuchten Profil gerecht zu werden. Eine wirkungsvollere Methode besteht deshalb darin, vergangene Ereignisse erzählen zu lassen – mit konkreten Beispielen, wie die Person reagiert und entschieden hat (für Profis: CBI oder Competence Based Interview).
 
Auch Unternehmen haben diese «Schwäche»: In der Eingangshalle präsentieren sie ihre Werte und Missionen, und auf der Website vermitteln Zitate berühmter Personen ein positives Bild ihrer Kultur. Die Persönlichkeit eines Unternehmens (oder einer Abteilung) kann man jedoch erst wirklich einschätzen, wenn man dort arbeitet. Einige Tage Praktikum sind deshalb die wirksamste Methode gegen diese Schwäche, jedoch schwierig zu organisieren oder oft aus Vertraulichkeitsgründen nicht möglich.
 
Wie können Sie aber bei einem Vorstellungsgespräch unterscheiden zwischen dem Bild, das vermittelt wird, und der gelebten Realität? Sicher gibt es Möglichkeiten, indirekt etwas über die Unternehmenskultur zu erfahren: auf speziellen Websites, von früheren und aktuellen Mitarbeitenden oder in der Presse. Doch Interessenkonflikte oder eine verborgene Agenda setzen hier Grenzen. Ratsamer ist, sich wie ein erfahrener Interviewer zu verhalten und gezielt Fragen zu stellen, die sich nicht mit allgemeinen Informationen wie Umsatz, Mitarbeiterzahl oder Standorte beantworten oder auf Schlagwörter reduzieren lassen, sondern einen authentischen Eindruck vom Verhalten Ihres Gegenübers im Arbeitsalltag geben.
 
Das ist gar nicht so einfach! Denn ein Ereignis oder ein Verhalten zu beschreiben oder sich in eine Situation zurückzuversetzen, schwierig. Am besten beginnen sie mit einer konkreten Frage über einen Unternehmenswert. Wenn Ihr Gegenüber betont, dass die Firma eine Politik der offenen Türen hat, dann fragen Sie nach, ob das wirklich für alle Hierarchiestufen und zu jedem Zeitpunkt gilt und wann von dieser Politik abgewichen wird.
 
Sie können auch mehr ins Detail gehen, vor allem, wenn Sie Ihrem Gegenüber unterstellt sein werden. «Können Sie mir ein Beispiel für eine Person geben, die Sie kürzlich befördert haben, und den Grund dafür?»; «Wie beginnen Sie Meetings und wie teilen Sie Redezeit zu?»; «Sind Sie am Wochenende und in den Ferien erreichbar?»; «Welcher Konflikt ist zuletzt in Ihrem Team aufgetreten, aus welchem Grund und wie wurde er gelöst?». Die Palette an Fragen ist unbeschränkt und abhängig von der Branche, der Hierarchiestufe und der Institution. Die Fragen mögen gewagt scheinen, sind aber legitim und lehrreich.
 
Es ist einfach, mit schönen Worten etwas zu verkünden, ohne Taten folgen zu lassen. Stellen Sie deshalb Fragen. Die Form der Antworten ist dabei ebenso interessant wie der Inhalt, denn wie mühelos sie gegeben werden, sagt viel aus über die Realität und die Aufrichtigkeit.

teammember mail bkg
Recruitment: Wissenschaft oder Kunst?
Die Debatte darüber, ob Wirtschaft – wie sie von einigen Universitätsfakultäten genannt wird – eine Wissenschaft ist, ähnlich den sogenannten…
Pareto: Das Barometer der organisatorischen Energie
Vor kurzem sind wir auf einen Artikel gestossen, der die Pareto-Regel im Kontext Ihres Teams beleuchtet. Die Quintessenz dieses Artikels…
ES ERGIBT KEINEN SINN, KLUGE LEUTE EINZUSTELLEN, UM IHNEN ZU SAGEN, WAS SIE TUN SOLLEN
Vorabveröffentlichung, Kolumne, die am Donnerstag, den 14. März, im 24Heures und am Freitag, den 15. März, in der La Tribune…
Seinen Platz einnehmen
Das Leben in einem Unternehmen ist wie das Leben in einer Gemeinschaft oder einer Familie, voller Freuden und manchmal auch…
Warum „Happiness“ auch im Geschäftsalltag wichtig ist
Von Melanie Tschugmall Mit dem neuen Jahr haben viele von uns Vorsätze für das kommende Jahr gefasst, um verschiedene Bereiche…
Sind alle Coach?
Artikel auch veröffentlicht am 11. Januar 2024 im 24heures und in der Tribune de Genève. Trotz meiner Bewunderung und Dankbarkeit…
Mit Nichts sterben
Artikel auch veröffentlicht in der Januar-Ausgabe des PME Magazins Der Titel dieser Kolumne bezieht sich auf den Buchtitel von Bill…
Wenn Sie sich diese Frage stellen, kennen Sie die Antwort bereits
Entscheidungen zu treffen, gehört in der Geschäftswelt zum Alltag. Gewisse Entscheidungen sind jedoch nicht einfach, so gehören sicherlich Entlassungen zu…
Hören, zuhören und schweigen
Nach Ihrer Rückkehr aus dem Urlaub sind Sie am Montagmorgen wieder im Büro.  Ein Teil von Ihnen befindet sich noch…
Strategisch und/oder operativ
In der Rekrutierungswelt werden wir teilweise mit sehr widersprüchlichen Anforderungswünschen konfrontiert. Da wir uns per Definition in einer nicht-exakten «Wissenschaft»…
© Alle rechte vorbehalten Ganci Partners    |    

This website is protected by reCAPTCHA and Google | Privacy | Terms

Design von benben.ch