Wer sich mit dem Thema Bewerbungsgespräche befasst, kommt bald zum Schluss, dass die Persönlichkeitsmerkmale, die sich die Kandidat*innen selber zuschreiben, im besten Fall ein Gesprächseinstieg und im schlechtesten eine Unwahrheit sind (auch wenn dies ohne böse Absicht geschieht). Denn von uns selbst haben wir ein unvollständiges oder falsches Bild (vor allem Personen mit wenig Erfahrung). Ausserdem möchten Bewerber*innen einen guten Eindruck machen und Charakterzüge, die sie an sich selber nicht mögen, nicht durchscheinen lassen. Schliesslich versuchen sie auch, dem gesuchten Profil gerecht zu werden. Eine wirkungsvollere Methode besteht deshalb darin, vergangene Ereignisse erzählen zu lassen – mit konkreten Beispielen, wie die Person reagiert und entschieden hat (für Profis: CBI oder Competence Based Interview).
Auch Unternehmen haben diese «Schwäche»: In der Eingangshalle präsentieren sie ihre Werte und Missionen, und auf der Website vermitteln Zitate berühmter Personen ein positives Bild ihrer Kultur. Die Persönlichkeit eines Unternehmens (oder einer Abteilung) kann man jedoch erst wirklich einschätzen, wenn man dort arbeitet. Einige Tage Praktikum sind deshalb die wirksamste Methode gegen diese Schwäche, jedoch schwierig zu organisieren oder oft aus Vertraulichkeitsgründen nicht möglich.
Wie können Sie aber bei einem Vorstellungsgespräch unterscheiden zwischen dem Bild, das vermittelt wird, und der gelebten Realität? Sicher gibt es Möglichkeiten, indirekt etwas über die Unternehmenskultur zu erfahren: auf speziellen Websites, von früheren und aktuellen Mitarbeitenden oder in der Presse. Doch Interessenkonflikte oder eine verborgene Agenda setzen hier Grenzen. Ratsamer ist, sich wie ein erfahrener Interviewer zu verhalten und gezielt Fragen zu stellen, die sich nicht mit allgemeinen Informationen wie Umsatz, Mitarbeiterzahl oder Standorte beantworten oder auf Schlagwörter reduzieren lassen, sondern einen authentischen Eindruck vom Verhalten Ihres Gegenübers im Arbeitsalltag geben.
Das ist gar nicht so einfach! Denn ein Ereignis oder ein Verhalten zu beschreiben oder sich in eine Situation zurückzuversetzen, schwierig. Am besten beginnen sie mit einer konkreten Frage über einen Unternehmenswert. Wenn Ihr Gegenüber betont, dass die Firma eine Politik der offenen Türen hat, dann fragen Sie nach, ob das wirklich für alle Hierarchiestufen und zu jedem Zeitpunkt gilt und wann von dieser Politik abgewichen wird.
Sie können auch mehr ins Detail gehen, vor allem, wenn Sie Ihrem Gegenüber unterstellt sein werden. «Können Sie mir ein Beispiel für eine Person geben, die Sie kürzlich befördert haben, und den Grund dafür?»; «Wie beginnen Sie Meetings und wie teilen Sie Redezeit zu?»; «Sind Sie am Wochenende und in den Ferien erreichbar?»; «Welcher Konflikt ist zuletzt in Ihrem Team aufgetreten, aus welchem Grund und wie wurde er gelöst?». Die Palette an Fragen ist unbeschränkt und abhängig von der Branche, der Hierarchiestufe und der Institution. Die Fragen mögen gewagt scheinen, sind aber legitim und lehrreich.
Es ist einfach, mit schönen Worten etwas zu verkünden, ohne Taten folgen zu lassen. Stellen Sie deshalb Fragen. Die Form der Antworten ist dabei ebenso interessant wie der Inhalt, denn wie mühelos sie gegeben werden, sagt viel aus über die Realität und die Aufrichtigkeit.
- Veröffentlicht auf September 19, 2023
- Von Vincenzo Ganci
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