Die Diktatur der Anerkennung

Dass in unserer Zeit ein Trend zum Individualismus besteht, der manchmal an Egoismus grenzt, dürfte wohl niemand bestreiten. Ein Spiegel davon sind unter anderem die sozialen Netzwerke. Individualismus wird hier nicht im herkömmlichen Sinn definiert – als Herkunft, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe – sondern als höchstpersönliche Identität: Ich bin einzigartig, und wehe denjenigen, die meine individuellen Entscheide nicht respektieren. Ich besitze dabei vielfältige Identitäten, die nebeneinander, übereinander, ineinander verwoben, manchmal fliessend, manchmal vorübergehend sind.

Zu diesem Individualismus gehört auch, dass dieser mit all seinen Facetten anerkannt[1] werden muss: meine Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen, meine sexuelle Orientierung, meine Herkunft oder meine Eigenheiten. Diese Haltung ist diametral entgegengesetzt zu einer vergangenen Welt, in der die Gruppe, die Zugehörigkeit, die Gemeinschaft mehr Gewicht hatten als die einzelnen Mitglieder.

In der Arbeitswelt herrscht weitgehend Einigkeit darüber, wie wichtig Anerkennung ist: Die Führungskräfte eines Unternehmens müssen gute Arbeit anerkennen, sich bedanken, den betreffenden Gruppen und vor allem jedem einzelnen Mitglied die Wertschätzung ausdrücken, die jedem zusteht. Das kann so weit gehen, dass die Frage nach der Berechtigung von Anerkennung nicht mehr als legitim akzeptiert, wird: Abgesehen von dem, was ich tue, muss mich das Gegenüber zuerst wahrnehmen als das, was ich bin. Vor der Anerkennung suchen wir somit Legitimation.

Ist dieser Trend gesund? Weshalb sind wir so abhängig vom Urteil anderer? Haben wir nicht genügend Selbstvertrauen, nicht genügend Abstand, dass wir unsere Stärken und Schwächen kritisch beurteilen können, und sind wir deshalb auf die Meinung anderer angewiesen? Kennen wir uns selbst nicht gut genug? Studien haben gezeigt, dass unbegründete Anerkennung und Dankbarkeit gegenüber Kindern bewirken, dass sie das Vertrauen in sich selbst verlieren, weil sie nicht mehr wissen, an welchem Massstab sie sich orientieren sollen. Sind wir alle grosse, unsichere Kinder? Bereits Nietzsche[2] beklagte dieses Bedürfnis nach Sklavenschaft: Nur Untertanen brauchen das Urteil anderer, damit sie ein Wertesystem für sich selbst schaffen können. Ein Mensch zu sein bedeutet, ohne die Meinung anderer leben zu können oder zumindest nicht alles von dieser Meinung abhängig zu machen; dass man dem Gegenüber zuhört und zu unterscheiden weiss zwischen Schmeicheleien, Manipulation und Bewunderung.

Und doch… ist es äusserst angenehm, wenn uns jemand auf die Schulter klopft, wenn wir am Ende der Kräfte sind! Ein Dankeschön, wenn wir uns so Mühe gegeben haben. Wir alle haben das erlebt. Auch wenn wir nicht davon abhängig sind.

Vielleicht würde die Lösung darin bestehen, dass wir unser Privat- und unser Berufsleben möglichst so gestalten, dass wir das machen können, wozu wir bestimmt sind und was zu uns passt, vielleicht hätten wir dann nicht mehr dieses unstillbare Verlangen nach Anerkennung bei unserer Arbeit. Die Erfüllung, uns selber zu sein, würde uns vollkommen genügen. Ich lade alle dazu ein, dieses Ideal zu verfolgen – vermutlich eine Suche und eine Arbeit, die uns ein Leben lang beschäftigen. 


[1] Haud Guéguen, Guillaume Malochet, Les théories de la reconnaissance, Paris, La Découverte, 2014, S. 3-6

[2] Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Reclams Universal-Bibliothek Band 7114, 1988

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